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SEHEN … Wieviel müssen wir schauen, bevor wir sehen?

SEHEN …

Wieviel müssen wir schauen, bevor wir was sehen?



Unser Blick ist von Geburt an auf die Umwelt gerichtet, durch das Sehen und dem Verarbeiten von Gesehenem nehmen wir unseren Platz in der Welt ein. Es steht vor der Sprache. Wir haben und machen uns erst einen Eindruck, der Ausdruck folgt danach.

Das Bild ist für mich wie eine Brücke in diesem Prozess…und das Betrachten von Bildern kann so immer wieder neu gedacht und gelernt werden.

Die Bildbetrachtung erlebe ich nicht einspurig: „Ich sehe, was mir vor die Linse kommt.“ Wir sehen das Gegenüber auch aus innen heraus an: wir sehen, was wir innerlich bereit sind zu sehen.

Wir interpretieren unser Sehen auch noch, verknüpfen mit unseren Erfahrungen, Werten, Ängsten. (Mir fällt dazu der Song Andre Hellers ein:„Die wahren Abenteuer sind im Kopf- und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo….“).


Und wie ist das: Ich habe es gesehen- also ist es wahr?

Sehen ist ein komplexer, subjektiver Vorgang, in dem es, so scheint´s ,mehr um die Beziehung zwischen den Dingen und uns geht, als um das Objekt an sich.

Das Bild, das wir uns machen, ein Werk, das wir erschaffen, verkörpert demnach eine bestimmte Art des Sehens. Wir können uns fragen- aus welcher psychischen Haltung, aus welcher Bereitschaft heraus entsteht ein Werk?


John Berger schreibt, daß man seit der Renaissance und dem damaligen Sprung in der bewusst-Werdung des Menschen die Dynamik zwischen dem Objekt- der inneren Haltung des Malenden- dem Prozess des Besehens (und Besehen- Werdens?, meine Anm.) und dem Bildbeschauer erkannte.

Davor war das Bild ein das Original überdauerndes Ab-Bild. Wachsendes Bewusstsein über die Individualität, einhergehend mit dem wachsenden Geschichtsbewusstsein des Menschen liessen diese Erkenntnis zu.

Das Ölbild als eigener Kunst-Stil von der Renaissance bis zu Beginn des 19. Jhdts. prägte eine eigene Haltung: Möglichst stoffliche, realitäts-nahe Darstellungen wurden auf Leinwand gebannt, verkauft, gehörten dann dem, der es kaufte…(davor gehörte das symbolisch aufgeladene Bild dem Raum, könnte man sagen: Ob es Kirchen oder Paläste waren…Das Bild bezog sich unmittelbar auf den Raum und füllte ihn mit Aussage…) Es wurde diesen wirklichkeits-getreuen Gemälden also ein Wert bemessen. Könnte die Botschaft dahinter sein: Ich sehe es..- also besitze ich es auch? Es würde zur Zeit der Aufklärung passen…

Und in gewisser Weise stimmt es ja auch: Das, wovon ich ein inneres Bild gemacht habe, nehme ich innerlich in Besitz- nur der Kauf-Prozess vermischt es nochmal in etwas Anderes- ( stop! Ist ein eigenes Thema…)

Meisterwerke, die auch heute noch als solche gelten, gehen auf jeden Fall weit über diesen Anspruch ihrer Zeit hinaus, davon bin ich überzeugt… (Sie berühren die Seele?).. Auch die Sicht darauf, was ein Meisterwerk ist, ist ja in Entwicklung. Nicht alle Bilder, die zu ihrer Entstehungszeit großartig galten, sind es auch heute noch für uns (die meisten eher nicht).

Der Archetyp des „Künstler-Genies“ lässt grüssen!.

Mit dem Aufkommen der Fotografie Anfang 20. Jhdt verlor die Ölmalerei diese Aufgabe…(ohne ihre Wichtigkeit für die Malerei zu verlieren- zumindest für eine bestimmte Community!)


Aber zurück zum Sehen:

Durch Sehen nehmen wir die Welt auf. Wir verinnerlichen Gesehenes, unmerklich machen wir es uns zu eigen, verankern es und integrieren es in unser Ich.

Alles, was wir verinnerlichen, können wir auch durch unseren Filter wiedergeben.

Interessant für mich war ein Vortrag dazu, den ich vor ein paar Jahren hörte. Es ging um Legasthenie:

Es wurde erklärt, daß zu den Worten, die nie richtig geschrieben werden, kein inneres Bild gefunden werden konnte. Es gilt also im Training, für diese Worte ein Bild zu erzeugen, das verinnerlicht werden kann..Ich fand diesen Input sehr schlüssig- und erlebe es auch so bei der Bildgestaltung. Dort, wo ich das Bild nicht finde, habe ich mir innerlich noch keines gemacht.

Und wie ist das in unserer Zeit der schnellen Bilder, der Werbung, Filmindustrie? :

Wir leben in einer unheimlichen Dichte von visueller Information- gekoppelt mit der inneren, intuitiven und geschichtlich geprägten Auffassung, Gesehenes als Realität anzunehmen. Gleichzeitig hören wir durch diese Über-Präsenz von Bildern auf,wirklich hinzuschauen, werden immer weniger berührt durch das, was wir sehen.

Sehen braucht Zeit, die wir uns nicht nehmen können oder wollen- (oder sollen ?) …


John Berger denkt in seinem Buch noch weiter: Der Überfluss an Bildern wird zum Synonym von Freiheit- von Reichtum. Dort, wo kein Bild gemacht wird, herrscht Zwang und Armut. (Stimmt ja auch… irgendwie- aber so ganz…??)

Die Gegenbewegung gibt’s ja auch: Reduktion schafft Auseinandersetzung. Die Erkenntnis daraus: Es gibt auch ein Zuviel - und das macht anscheinend wieder unfreier: Bilder, die nicht mehr aufhören zu laufen, Bilder, die diffus, ohne wirkliche Chance auf Verarbeitung uns bis in die Träume hinein beschäftigen.

„Werbung ist der Lebens-Nerv des Kapitalismus. Früher wurde das Ziel der Ausbeutung der Masse dadurch erreicht, daß man den Menschen das Wissen vorenthielt, was ihr gehörte. Heute erreicht man das Gleiche, indem man über die Überflutung mit Bildmaterial einen künstlichen Maßstab aufschwatzt, was begehrenswert ist und was nicht - um sie so von ihren wirklichen Interessen fernzuhalten.“

Also wäre Filterung zu trainieren sinnvoll, Reduktion, auf das, was ich besehen möchte, was ich aufnehmen möchte. Nicht von aussen Begrenzung erfahren, sondern die eigene Begrenzung üben.


Ich erlebe das Sehen als lebenslangen Übungsweg, als Zeichen der Bewusstwerdung und Individuation. Wir können unsere Perspektiven und Sichtweisen pflegen- aus unserem Bewusstsein heraus… Und in der bewusst gewählten Begrenzung liegt ein neuer Zugang zur selbst-verantwortlichen Freiheit- auch des Sehens…


Buchempfehlung: John Berger: „Sehen- das Bild der Welt in der Bilderwelt“

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